SZ: Warum gibt es Kinderorthopäden?
Dr. Gaulrapp: Kinder haben besondere Bedürfnisse. Sie gehören nicht einfach in die Erwachsenenorthopädie. Dort heißt es oft: Kind 2 Minuten anschauen und dann Einlagen verordnen. Kinderorthopäden verfügen über spezielle Erfahrungen und Kenntnisse der kindlichen Entwicklung und bestimmte Erkrankungsformen. Und sie können meistens ganz einfach besser mit Kindern und deren Angehörigen umgehen.
SZ: Was passiert in der kinderorthopädischen Praxis?
Hier werden ganz klassische Behinderungen und Deformitäten vom Babyalter bis zum jungen Erwachsenen behandelt. Natürlich auch Unfall- und Sportverletzungen. Viele Eltern kommen gleich in die kinderorthopädische Praxis, weil sie dort spezifische Kompetenz vorfinden.
SZ: Worin besteht diese Kompetenz?
Der Kinderorthopäde macht nach seiner Facharztausbildung noch eine 2-jährige Zusatzausbildung mit Untersuchungstechniken, Operationen etc. Ganz wichtig ist, dass er kind- und elternspezifische Befragungs- und Untersuchungsmethoden beherrscht.
SZ: Wie stelle ich mir die vor?
Anders als beim Erwachsenen geht die Untersuchung eher spielerisch vonstatten; ich baue sie in Spiele ein. Für mich sind das intensive Gespräch, die Aufklärung und den Eltern ihre Ängste nehmen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung des Kindes.
SZ: Was ist mit bildgebenden Verfahren?
Auf alle Fälle sollte der Kinderorthopäde eine strahlungsarme Bildgebung bevorzugen. Wenn möglich, sollte er die Sonographie, also den Ultraschall, einsetzen. Das kann in vielen Fällen eine Röntgenaufnahme überflüssig machen.
SZ: Welche Krankheitsbilder fallen in Ihr Behandlungsspektrum?
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Primär geht es mir darum, zu erkennen, ob bei den jungen Patienten Wachstum, Reifung und Entwicklung anders verlaufen als normal, ob sie also spezielle Erkrankungen haben, die dann zu behandeln sind oder die vielleicht sogar zu verhindern sind.
SZ: Welche können das sein?
Zum Beispiel die Hüftdysplasie, eine angeborene oder erworbene Fehlstellung der Hüfte. Sie tritt bei Mädchen häufiger auf als bei Jungen. Unbehandelt kann sie zu dauerhaften Einschränkungen, wie beispielsweise Hinken oder frühzeitigen Abnutzungserscheinungen, führen. Eine weitere Krankheit, die möglichst früh behandelt werden soll, ist die Skoliose. Dabei ist die Wirbelsäule S-förmig verbogen. Ohne Behandlung verstärkt sich die Skoliose und führt zu Behinderungen und Schmerzen.
SZ: Im Kopf spuken ja immer noch Vorstellungen von Babys im Ganzkörpergips und von grauenhaften Stahleinlagen – wahre Folterinstrumente. Wie ist die Realität?
Stahleinlagen gibt es nicht mehr. Überhaupt tendieren wir weniger zu Einlagen. Kinderorthopäden sind nämlich weniger dirigistisch als man glaubt. Für uns ist vielmehr der Form-Funktionszusammenhang wichtig.
SZ: Was verstehen Sie darunter?
Der Begriff stammt ursprünglich aus der Architektur. Wir schauen darauf, dass die Funktion intakt bleibt oder wird. Das hat positive Auswirkungen auf die Form des Körpers, zum Beispiel der Wirbelsäule, der Beine und so weiter. So ist etwa bei der Skoliose-Behandlung heute nicht mehr die passive Streckung der Wirbelsäule im Korsett oder in der Physiotherapie das Ziel, sondern die aktive dreidimensionale Aufrichtung durch Derotation, die durch muskuläre Stimulation und Atemtechniken unterstützt wird.
SZ: Ist Sport das A und O?
Ja, für die Entwicklung der kindlichen Motorik und Psychomotorik ist Sport wichtig. Doch warum sollen Kinder Sport treiben, wenn die Eltern nicht sportlich unterwegs sind? Das können Sie einem Kind nicht erklären. Aber an diesem Beispiel sehen Sie, dass Kinderorthopädie auch Erziehung und Begleitung von Kindern und Eltern bedeutet. Noch Eines es möchte ich hinzufügen: der gute Kinderorthopäde nimmt sich Zeit für die Fragen und oft auch Ängste oder Verunsicherungen der Kinder und ihrer Angehörigen. Er ist aber auch auf deren offen gestellte Fragen und insbesondere deren Nachfragen angewiesen, damit er so gut wie möglich helfen kann.